Mai 2020

Tod, Trauer
und Toilettenpapier.

Wie lange soll das so weitergehen, fragt man sich. Fragen alle. Obwohl wir die Antwort kennen. Lange. Wir werden noch viel herumsitzen, aus dem Fenster schauen, in Bildschirme starren und dabei ins Nichts blicken.

Wir warten darauf, dass der Spuk endlich vorübergeht. Obwohl wir keine Vorstellung davon haben, wie das sein wird – wenn der Spuk vorüber ist. Was wird dann noch da sein, von unserem alten Leben? Wie wird sich das anfühlen? Werden wir erleichtert sein?

Wir werden sehen.

Und in der Zwischenzeit versenden wir wieder lustige Videos über Toilettenpapier, Homeoffice und Hamsterkäufe. Aber wir fürchten auch, demnächst wieder die ersten Särge zu sehen. Die Bilder von den Intensivstationen machen schon wieder in den Nachrichten die Runde. Sind das neue Aufnahmen? Oder hat man die Bilder der nackten Körper hinter Glas vom März genommen?

Wir hören uns selbst beim Denken zu. Öfter als früher. Wir lauschen unseren Gedanken und hören den anderen zu, wie sie sich Mut zusprechen, gegenseitig auf die Nerven gehen, sich Sorgen machen, verzweifeln, Hoffnung schöpfen und gleich wieder verlieren.

Alle, die nicht außer sich sind vor Wut – oder gänzlich abgestorben –, suchen positive Meldungen. Es sind nur wenige. Das gemeinsame Singen, das Klatschen, es fehlt. Obwohl, damals fanden wir es albern. Auch die Zettel im Treppenhaus fehlen, auf kariertem Papier, in denen älteren Nachbarn Einkaufshilfe angeboten wurde, akkurat geschrieben mit einer kindlichen Handschrift.

Alle sind froh über ein Zeichen, dass irgendwo, irgendjemand an sie denkt. Egal wer. Familie, Freunde, Nachbarn, Arbeitskollegen, Kunden, selbst Fremde. Nicht zu vergessen: der Staat, ja, der Staat – auch da freuen sich die Menschen, dass er jetzt an sie denkt.

Plötzlich spüren alle den Unterschied – zwischen allein sein und alleingelassen werden. Für manche eine neue Erfahrung. Für andere Normalzustand.

Und mit jeder Woche werden die Unterschiede spürbarer. Auch klar. Wieso der, wieso nicht ich? Wir unterscheiden und werden unterschieden. Achten argwöhnisch auf das, was weniger wird, und auf das, was mehr wird.
Auch Sie werden bald nicht mehr unterscheiden können, ob es den anderen besser geht oder Ihnen schlechter.

Es ist eine Fahrt ins Ungewisse. Wir rasen hinein in einen Tunnel und sehen vielleicht am Ende Licht. Wer weiß. Vielleicht auch nur Dunkelheit.

Wir versuchen, diese Bilder in unserem Kopf zu überschreiben, greifen zu den Alben mit den eingeklebten Urlaubserinnerungen. Wir meinen, die Sonnencreme zu riechen, glauben, das Kindergegacker am Strand zu hören, sehen die Pommestüte in der Sonne, mit der glasig gewordenen Mayonnaise.

Wir klammern uns an die schönen Bilder, ein Teil davon verblasst – der Teil, der in der Zukunft spielt. Der Teil, den Sie und ich für sicher hielten.

Wir brauchen in solchen Zeiten einander. Wollen es aber nicht wahr haben, weil wir uns so allein fühlen. Selbst die Untergangspropheten brauchen jetzt andere – zumindest als Zuhörer. Sie brauchen Publikum für ihre Botschaften: die Apokalyptiker, Hasser und Verschwörungsaufdecker. Sie wollen nicht allein sein. Wer nichts anderes kann, hasst eben. Traurig. Aber da kann man nichts machen. Außer geduldig bleiben. Hass ist nicht das Gegenteil von Liebe. Das Gegenteil von Liebe ist Angst. Und weil wir davon jetzt reichlich haben – alle haben Angst –, sehnen wir uns gerade nach dem Gegenteil: Liebe. Manchmal müssen wir uns daran erinnern. Liebe? Wann hatten wir die zum letzten Mal?

Sollten wir davon nicht mehr beschaffen? Einen Vorrat anlegen, hamstern? Wahrscheinlich ist es mit der Liebe wie mit dem Klopapier; es ist im Grunde genug da, aber uns plagt immer die Angst ,nicht genug davon abzubekommen.


Peter Goldammer / Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein. / Impressum / Datenschutz / Cookie-Einstellungen